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Paz-Bericht vom 19.11.2004

Gewichtiger Fund zum Kriegsalltag


Dungelbecker Kriegschronik als erste Ausgabe für Quellen-Editionsreihe des Stadtarchivs

Der überraschende Fund in einem kleinen Dachraum hat geschichtlichen Seltenheitswert und liefert den Stoff für die erste Ausgabe der neuen Quellen-Editionsreihe des Stadtarchivs. Der Historiker Jens Binner beleuchtet wissenschaftlich die nahezu komplett erhaltene Dungelbecker Kriegschronik (1939 bis 1945), die der damalige Hauptlehrer Georg Bösche nach NSDAP-Richtlinien erstellt hat.
Von Manfred Reichel

Peine/Dungelbeck. Im April/Mai 2005, wenn sich zum 60. Mal der Tag der Kapitulation jährt, soll dieser 60-seitige, bebilderte Band als wichtige Quelle zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges in der Region erscheinen. „Vergleichbares gibt es in den städtischen Ortschaften nicht. Dieses zeitgeschichtliche Zeugnis hat überregionale Bedeutung für Bibliotheken und Universitäten“, so der Leiter des Stadtarchivs, Michael Utecht. Im Kreisgebiet sei Ähnliches nur noch für Groß Ilsede (Sammlung Söchtig ) vorhanden.

Hintergrund: Im Frühjahr 2003 stießen städtische Mitarbeiter bei einer Ortsbesichtigung des ehemaligen Gemeindehauses in einer kleinen Dachkammer auf jede Menge Akten und Unterlagen. Heimatpflegerin Ilse Horstmann ordnete dieses umfangreiche, ergiebige Material. Dabei erhielt die Kriegschronik, zunächst in deutscher, und ab 1942 in lateinischer Schrift geschrieben, Vorrang. Die Aufzeichnungen übertrug Horstmann in den Computer, und stellte dann den Bestand dem Stadtarchiv zur Verfügung.

Diese Kriegschronik musste in jedem Ort nach genauen Richtlinien der NSDAP und in Erwartung des „Endsieges“ erstellt werden. Sie sollte später zu einem Kreis-Kriegsarchiv zusammengefasst werden, um nach den Vorstellungen der Nazis „den Einsatz der Partei und den Lebenskampf unseres Volkes für alle Zeiten festzuhalten“. Zwar sind die Namen der Verfasser dieser Chroniken in den heutigen städtischen Ortschaften bekannt, aber die Unterlagen wurden offenbar vernichtet – mit Ausnahme Dungelbecks.

Schwerpunkte sind: Die Schilderung der Kriegsereignisse vom Sommer 1939 bis 4. März 1945 im Dorf sowie die Sammlung von Dokumenten zu Gefallenen (Lebensläufe, Feldpostbriefe, Fotos und Todesmitteilungen), offenbar als zentraler Bestandteil der Chronik unter dem Begriff „Heldenverehrung“ geplant, schließlich die bis ins kleinste Detail alles bestimmende Handlungsanleitung der NSDAP zur Erstellung der Dungelbecker Kriegschronik, was alles zu berücksichtigen ist. Dazu gehörten unter anderem: Einquartierungen, Flakstellungen, Kriegsgefangene, Fliegeralarm, Sammelaktionen und Veranstaltungen der Partei, kriegsbedingte Maßnahmen.

„Der Aussagewert der Kriegschronik ist durch den Charakter als parteiamtliche und zentral kontrollierte Sammlung begrenzt“, gibt der Historiker zu bedenken. Dennoch wird in den Aufzeichnungen der unterschiedliche Tenor deutlich – etwa in den Feldpostbriefen von der West- und Ostfront. Die Betroffenheit der Soldaten über die furchtbaren Fronterlebnisse verfehlt nicht ihre Wirkung auf die Familienangehörigen daheim.

Wie sich im totalen Krieg die Stimmung der Bevölkerung verschlechtert, lässt selbst Chronist Bösche anklingen. War der gestoppte Vormarsch der Deutschen vor Moskau Anfang 1942 „witterungsbedingt“, so sieht Bösche nach der Stalingrad-Niederlage (1943) einen „Wendepunkt“. Andererseits verknüpfte er die Landung der Alliierten in der Normandie (6. Juni 1944) und das Hitler-Attentat am 20. Juli 1944 zum „Verrat“.

Seit 1942 gestaltete die NSDAP immer mehr die Totenfeiern für die Gefallenen in Dungelbeck. Dazu merkt Bösche, ein Gegner der Kirche, an: „Wir können uns nicht mit Worten der Kirche aus dem Judenbuch (Bibel) trösten lassen.“

Deutsche Soldaten auf dem Festanger, die im Januar 1942 in Dungelbeck einquartiert wurden.
privat

Eine Veranstaltung der NSDAP, entweder zum 1. Mai oder zum Heldengedenktag, in der ehemaligen Sandkuhle gegenüber dem Escheberg. Foto: privat

Den Feldpostbriefen ein „Gesicht geben“
Sonderbroschüre aus Teilen der Kriegschronik geplant

Peine-Dungelbeck (el). Zweigleisig gehen Stadt und Dungelbeck bei Auswertung und Darstellung der in einem Dachraum gefunden Akten der ehemaligen Dorfgemeinde vor. „Alles, was aus Sicht des Historikers Jens Binner in der neuen Quellen-Editionsreihe des Stadtarchivs bei der Herausgabe der Dungelbecker Kriegschronik nicht berücksichtigt werden kann, stellen wir in einer Broschüre der Dungelbecker Bevölkerung vor“, sagte Heimatpflegerin Ilse Horstmann.
Beispielsweise sollen die vielen Feldpostbriefe von Soldaten aus dem Dorf, deren Lebensläufe, soweit vorhanden sowie auch die Umstände ihres Todes im II. Weltkrieg veröffentlicht werden. „Hinzu kommen Porträts der Dungelbecker Wehrmachtsangehörigen, darunter ganz junge Leute. Dadurch erhalten die Briefe, in denen sich das ganz persönliche Elend im Soldatenalltag widerspiegelt, ein Gesicht“, so Horstmann.
Sie sei beeindruckt und zugleich erschüttert über das, was die Soldaten von der Front geschrieben haben. Beispielsweise konnte einer „nicht vergessen, wie viele Tote hier liegen – zwischen zwei Telegrafenmasten mehr als 100 Gefallene“. Ein weiterer Briefschreiber verbietet seinen Eltern, sich Sorgen um den Sohn zu machen. Denn der „Führer werde es schon richten“. Oder wie in jenem Weihnachtsbrief von der Front, bei dem jeder Satz mit Mutter anfängt und zum Schluss mit dem Wunsch endet: „Mutter, wie wäre ich so gern bei euch.“ Schließlich wirft ein Briefzitat eines Offiziers aus Dungelbeck ein bezeichnendes Licht auf die Grausamkeit im Krieg: „Wir haben einen Soldaten beerdigt und aus Rache einige Russen erschossen.“
Aber nicht nur die Dungelbecker Kriegschronik enthielt der Dachkammer-Fund. Die Unterlagen der ehemaligen Gemeinde Dungelbeck vermitteln ein anschauliches Bild unter anderem über Armenpflege, Bittgesuche, Wohnungssuchende, Bau-, Polizei- und Steuerangelegenheiten. Bei der Auswertung dieser Akten, Protokolle und Aufzeichnungen steht die Heimatpflegerin noch am Anfang. „Wenn wir nur ein Bruchteil des Materials für unsere Dorfchronik im Jubiläumsjahr 2003 gehabt hätten, wäre uns viel mühselige Sucharbeit erspart geblieben“, sagte Horstmann.

Dieses Flugblatt der Briten wurde im Oktober 1941 am Mittellandkanal gefunden. Auf der einen Seite standen Sendezeiten und Wellenlänge für deutschsprachige Sendungen im Londoner Rundfunk (BBC), auf der anderen Seite unter dem Titel Hörverbot eine Attacke gegen den deutschen Propagandaminister Joseph Goebbels. Repro cb