Der überraschende Fund in einem kleinen Dachraum hat
geschichtlichen Seltenheitswert und liefert den Stoff für die erste
Ausgabe der neuen Quellen-Editionsreihe des Stadtarchivs. Der
Historiker Jens Binner beleuchtet wissenschaftlich die nahezu
komplett erhaltene Dungelbecker Kriegschronik (1939 bis 1945), die
der damalige Hauptlehrer Georg Bösche nach NSDAP-Richtlinien
erstellt hat.
Von Manfred
Reichel
Peine/Dungelbeck. Im April/Mai 2005, wenn sich zum
60. Mal der Tag der Kapitulation jährt, soll dieser 60-seitige,
bebilderte Band als wichtige Quelle zur Geschichte des Zweiten
Weltkrieges in der Region erscheinen. „Vergleichbares gibt es in den
städtischen Ortschaften nicht. Dieses zeitgeschichtliche Zeugnis hat
überregionale Bedeutung für Bibliotheken und Universitäten“, so der
Leiter des Stadtarchivs, Michael Utecht. Im Kreisgebiet sei
Ähnliches nur noch für Groß Ilsede (Sammlung Söchtig ) vorhanden.
Hintergrund: Im Frühjahr 2003 stießen städtische Mitarbeiter bei
einer Ortsbesichtigung des ehemaligen Gemeindehauses in einer
kleinen Dachkammer auf jede Menge Akten und Unterlagen.
Heimatpflegerin Ilse Horstmann ordnete dieses umfangreiche,
ergiebige Material. Dabei erhielt die Kriegschronik, zunächst in
deutscher, und ab 1942 in lateinischer Schrift geschrieben, Vorrang.
Die Aufzeichnungen übertrug Horstmann in den Computer, und stellte
dann den Bestand dem Stadtarchiv zur Verfügung.
Diese
Kriegschronik musste in jedem Ort nach genauen Richtlinien der NSDAP
und in Erwartung des „Endsieges“ erstellt werden. Sie sollte später
zu einem Kreis-Kriegsarchiv zusammengefasst werden, um nach den
Vorstellungen der Nazis „den Einsatz der Partei und den Lebenskampf
unseres Volkes für alle Zeiten festzuhalten“. Zwar sind die Namen
der Verfasser dieser Chroniken in den heutigen städtischen
Ortschaften bekannt, aber die Unterlagen wurden offenbar vernichtet
– mit Ausnahme Dungelbecks.
Schwerpunkte sind: Die Schilderung
der Kriegsereignisse vom Sommer 1939 bis 4. März 1945 im Dorf sowie
die Sammlung von Dokumenten zu Gefallenen (Lebensläufe,
Feldpostbriefe, Fotos und Todesmitteilungen), offenbar als zentraler
Bestandteil der Chronik unter dem Begriff „Heldenverehrung“ geplant,
schließlich die bis ins kleinste Detail alles bestimmende
Handlungsanleitung der NSDAP zur Erstellung der Dungelbecker
Kriegschronik, was alles zu berücksichtigen ist. Dazu gehörten unter
anderem: Einquartierungen, Flakstellungen, Kriegsgefangene,
Fliegeralarm, Sammelaktionen und Veranstaltungen der Partei,
kriegsbedingte Maßnahmen.
„Der Aussagewert der Kriegschronik ist
durch den Charakter als parteiamtliche und zentral kontrollierte
Sammlung begrenzt“, gibt der Historiker zu bedenken. Dennoch wird in
den Aufzeichnungen der unterschiedliche Tenor deutlich – etwa in den
Feldpostbriefen von der West- und Ostfront. Die Betroffenheit der
Soldaten über die furchtbaren Fronterlebnisse verfehlt nicht ihre
Wirkung auf die Familienangehörigen daheim.
Wie sich im totalen
Krieg die Stimmung der Bevölkerung verschlechtert, lässt selbst
Chronist Bösche anklingen. War der gestoppte Vormarsch der Deutschen
vor Moskau Anfang 1942 „witterungsbedingt“, so sieht Bösche nach der
Stalingrad-Niederlage (1943) einen „Wendepunkt“. Andererseits
verknüpfte er die Landung der Alliierten in der Normandie (6. Juni
1944) und das Hitler-Attentat am 20. Juli 1944 zum „Verrat“.
Seit
1942 gestaltete die NSDAP immer mehr die Totenfeiern für die
Gefallenen in Dungelbeck. Dazu merkt Bösche, ein Gegner der Kirche,
an: „Wir können uns nicht mit Worten der Kirche aus dem Judenbuch
(Bibel) trösten
lassen.“
Deutsche Soldaten auf dem Festanger, die im
Januar 1942 in Dungelbeck einquartiert wurden.
|
Eine Veranstaltung der NSDAP, entweder zum 1. Mai oder zum Heldengedenktag, in der ehemaligen Sandkuhle gegenüber dem Escheberg. Foto: privat |
|
|
Peine-Dungelbeck (el). Zweigleisig gehen Stadt und
Dungelbeck bei Auswertung und Darstellung der in einem Dachraum
gefunden Akten der ehemaligen Dorfgemeinde vor. „Alles, was aus
Sicht des Historikers Jens Binner in der neuen Quellen-Editionsreihe
des Stadtarchivs bei der Herausgabe der Dungelbecker Kriegschronik
nicht berücksichtigt werden kann, stellen wir in einer Broschüre der
Dungelbecker Bevölkerung vor“, sagte Heimatpflegerin Ilse
Horstmann.
Beispielsweise sollen die vielen Feldpostbriefe von
Soldaten aus dem Dorf, deren Lebensläufe, soweit vorhanden sowie
auch die Umstände ihres Todes im II. Weltkrieg veröffentlicht
werden. „Hinzu kommen Porträts der Dungelbecker
Wehrmachtsangehörigen, darunter ganz junge Leute. Dadurch erhalten
die Briefe, in denen sich das ganz persönliche Elend im
Soldatenalltag widerspiegelt, ein Gesicht“, so Horstmann.
Sie
sei beeindruckt und zugleich erschüttert über das, was die Soldaten
von der Front geschrieben haben. Beispielsweise konnte einer „nicht
vergessen, wie viele Tote hier liegen – zwischen zwei
Telegrafenmasten mehr als 100 Gefallene“. Ein weiterer
Briefschreiber verbietet seinen Eltern, sich Sorgen um den Sohn zu
machen. Denn der „Führer werde es schon richten“. Oder wie in jenem
Weihnachtsbrief von der Front, bei dem jeder Satz mit Mutter anfängt
und zum Schluss mit dem Wunsch endet: „Mutter, wie wäre ich so gern
bei euch.“ Schließlich wirft ein Briefzitat eines Offiziers aus
Dungelbeck ein bezeichnendes Licht auf die Grausamkeit im Krieg:
„Wir haben einen Soldaten beerdigt und aus Rache einige Russen
erschossen.“
Aber nicht nur die Dungelbecker Kriegschronik
enthielt der Dachkammer-Fund. Die Unterlagen der ehemaligen Gemeinde
Dungelbeck vermitteln ein anschauliches Bild unter anderem über
Armenpflege, Bittgesuche, Wohnungssuchende, Bau-, Polizei- und
Steuerangelegenheiten. Bei der Auswertung dieser Akten, Protokolle
und Aufzeichnungen steht die Heimatpflegerin noch am Anfang. „Wenn
wir nur ein Bruchteil des Materials für unsere Dorfchronik im
Jubiläumsjahr 2003 gehabt hätten, wäre uns viel mühselige Sucharbeit
erspart geblieben“, sagte
Horstmann.
Dieses Flugblatt der Briten wurde im Oktober 1941 am Mittellandkanal gefunden. Auf der einen Seite standen Sendezeiten und Wellenlänge für deutschsprachige Sendungen im Londoner Rundfunk (BBC), auf der anderen Seite unter dem Titel Hörverbot eine Attacke gegen den deutschen Propagandaminister Joseph Goebbels. Repro cb |